1999 UND ICH HASSE JUNGS
Text for the Publication1999 und ich hasse Jungs by artist Barbara Lüdde.
2022
1999, Weimar, damals Kulturhauptstadt Europas, und eine Jugend darin – ein Jugendzimmer.
Ein Haus, ein Fachwerkhaus, gekauft und renoviert von einer alleinerziehenden Mutter um die Wendezeit: Drei Töchter, viele Nachbarn, Kontakt, Feste im Hof, besetzte Häuser und Punkbands, direkt nebenan proben die Roten Nelken, der Euro wird als Buchgeld eingeführt und im August starren tausende Menschen mit lustigen Pappbrillen auf die Sonnenfinsternis—
Die 90er Jahre gelten gemeinhin als eine weichgespülte Ära: Es gab nur langsames Modem-Internet, beim Wort Troll dachte man noch an Figuren aus Weichplastik mit buntem Krausehaar, und in der Bravo las man vom Y2K-Bug – dem möglichen Computer-Chaos wegen des Wechsels von 1999 auf 2000. Man tanzte naiv zu Michael Jackson, schaute Weinstein Filme, wollte am besten alle Möbel aus aufblasbarem Plastik, und bis auf den Kosovo waren alle größeren Kriege vorbei—
Die Welt schien in Ordnung, und doch schlug einem direkt gegenüber die brutale Architektur eines Nazibaus ins Gesicht: Das Gauforum Weimar, in dem einst die NSDAP residieren sollte, um zusammen mit der Gauleitung Thüringen Prestige, Macht und Intransparenz des Dritten Reichs zu symbolisieren. Ein Zufall, dass nach der Wende die Häuser gegenüber besetzt wurden, um dem ein wenig Anarchie im Kleinformat entgegenzusetzen?
Mit dem Blick durchs Fenster auf den kalten Neorenaissancebau las man dann auch all die Berichte über Brandanschläge und Morde an Menschen mit Migrationshintergrund, die es immer öfter in die Zeitung schafften, “ohne rassistische oder fremdenfeindliche Motive" – öffentlich bekannt wurde der NSU erst 2011, aber 1999 formierte er sich.
1999, übrigens auch das Jahr, in dem Dieter Ehrlich Otze, Sänger der bekanntesten DDR-Punkband Schleim-Keim, seinen Vater mit einer Axt tötete und dann den Rest seines Lebens in einer psychiatrischen Klinik verbrachte—
Wie fühlte es sich an, in dieser Zeit erwachsen zu werden, aus diesen Fenstern zu blicken? Wer wollte man sein? Generation Y, Gen Y, Y-ler oder Millenials, immer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, zwischen Snake-spielen und Digitalisierung?
In ihrer ersten Einzelausstellung, in der Barbara Lüdde deutlich biografischer arbeitet, zeigt die Künstlerin fragmentarisch Reproduktionen ihres Jugendzimmers – und damit vielleicht eine ihrer ersten künstlerischen Arbeiten überhaupt!
Yung Barbara Lüdde.
Der Ausstellungsraum ist mit Foto-Plots in Originalgröße tapeziert, dazwischen finden sich Zeichnungen aus verschiedenen Jahren, Relikte und Symbole aus der Jugend, die teils bis heute in den Werken der Künstlerin auftauchen, die sich seit jeher gern mit sozialen Codes und Ritualen beschäftigt.
Wie politisch ist Erinnern? Die Reproduktion von Geschichten, das Zeigen und Archivieren von gewesenen Perspektiven?
Wissenschaftlich ist erwiesen, dass der Mensch beim Erinnern die Erinnerungen oft verändert, sie nostalgisch verzerrt, und dabei immer weiter vom Original abweichen kann. Erinnerungen sind subjektiv: Fehler können weichgezeichnet, Details hinzugefügt oder weggelassen werden – PsychologInnen beschreiben diesen Effekt auch als False-Memory-Syndrome.
Wie politisch sind Jugendzimmer?
Welche strukturellen Umstände stellen sie aus, as unprätentiös as possible? Es ist das Zentrum – das Zimmer, in dem sich einst die Amygdala formte.
Als Kleinkind malt man nicht, was tatsächlich gesehen wird: Man abstrahiert in einen subjektiven Expressionismus, zeichnet Teile von denen man weiß, dass sie da sind, oder Menschen einfach durch Objekte hindurch.
Kinder im Kindergartenalter wiederum malen dann vor allem Häuser, Bäume, Blumen und Menschen – Häuser stehen für Geborgenheit, Bäume und Blumen für die lebendige Kreatur, Menschen für soziale Beziehungen.
Und in der Jugend? Können wir lesen und schreiben, und so können Songtexte, Zitate und Graffitis zu unseren Symbolen, unserem Expressionismus werden.
Barbara Lüdde verdichtet in ihrer Ausstellung TicTacToe-CDs mit riesigen Plastikblumen, Postern, Diddlmäusen und Herzkissen zu einer großen Materialcollage, KeinBockAufNazis-Sticker neben Smileys, Peace- und Hanfblatt-Symbolen werden zur persönlichen Höhlenmalerei, die die Wünsche, Träume und Werte dieser Zeit überliefert – eine Archäologie der eigenen Herkunft.
Vor 1999 durfte die Künstlerin mit ihren Zimmerwänden anstellen, was sie wollte – Mama Sigrun hatte dies offiziell erlaubt und danach interessiert beobachtet, wie aus einem bloßen Raum eine Art begehbares Poesiealbum entstand, die 3D-Dokumentation einer Zeit. Was heute klassisch als Chat-Verlauf auf Screens stattfindet, entfaltet sich hier auf Wänden und Türrahmen, übersät von Botschaften und Erinnerungen.
Natürlich hat die Zeit die Farbe an den Wänden verblassen lassen – die Foto-Reproduktionen des Zimmers entstanden erst 2021 – und auch Gerüche lassen sich leider schlecht reproduzieren, nur ungefähr imaginieren: Mitbewohner Werner jedenfalls, eine frei herumlaufende Ratte, hat sich nicht nur in angeknabberten Schulheften verewigt [(°◡°)] und wurde von der Künstlerin gelegentlich auch zu Lesungen mitgenommen—
Am Ende geht es beim Erinnern immer auch ums Fühlen: Vielleicht möchten wir heute genau zu diesem Gefühl zurück, wenn wir uns eine Lavalampe in die Wohnung stellen? Außerdem: Eine Wand ohne Edding ist wie Sex ohne Petting.
Ende der Jugend, Ende der Naivität, pubertärer Kram?
Hassen wir die Jungs heute noch immer?
Eine Zeitkapsel.
Glitzer und Knallfarben? Auch eine queere Ästhetik.
Sich-Räume-schaffen, sich Raum nehmen.
Also bitte
ANKLOPFEN PRIVAT !!!
aber dann gerne hereinspaziert.